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Miniaturportraits

Massenfotografie im "American-Automatic-Tip Top" Stil

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Eine neue Form der Porträtfotografie

Wer alte Familienalben, Flohmärkte oder Archive durchstöbert, stößt mitunter auf  kleine Schwarzweißfotos auf dünnem Papier – oft als Serien identischer Porträts, mit Bildnummer und Studioangabe, die im Hintergrund mitfotografiert wurden.

Diese Aufnahmen sind schlicht und klein: Brustporträts von Einzelpersonen oder Gruppen in lockerer Pose, frontal beleuchtet und direkt in die Kamera gewandt. Häufig ist die technische Qualität bescheiden – leicht unscharf –, was ihnen aber eine unmittelbare, authentische Ausstrahlung verleiht.

Entstanden sind sie in einem neuen Typ Fotostudio, der sich ab etwa 1912 rasant in deutschen Städten verbreitete und den Zugang zur Fotografie grundlegend veränderte.

Zwar erinnern die Bilder an moderne Passfotos, doch der oft verwendete Begriff „Automatenfotos“ ist irreführend: Vollautomatische Kabinen kamen hier nicht zum Einsatz. Das typische Merkmal eines Fotoautomaten – Selbstbedienung per Münzeinwurf – fehlte. Es war ein Operateur anwesend, der Kamera, Licht und Pose kontrollierte.

Das dahinterstehende Verfahren stammt ursprünglich aus Großbritannien und wurde dort Stickyback genannt.

Der ungarische Fotohistoriker János Mátyás Balogh hat mit seiner Arbeit über Stickyback-Fotografie ein Standardwerk zu der Massenporträtfotografie des frühen 20. Jahrhunderts vorgelegt.
Balogh bezeichnet dieses Genre als „ein internationales Phänomen mit lokal unterschiedlichen Begriffen“, zu denen u. a. das englische Stickyback, das ungarische Enyveshát, das österreichische Leimrücken, das deutsche American Automatic Photo, das niederländische Tip-Top oder das französische Photo-mécanique zählen – die tatsächlich alle auf dasselbe fotografische Phänomen verweisen.¹

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Vom Kleberücken zum American Automatic Foto

Stickybacks – der Name sagt es bereits – hatten eine besondere Rückseite: Sie war gummiert, ähnlich wie bei Briefmarken. Wurde sie angefeuchtet, konnte man das Bild direkt aufkleben.
In Deutschland scheint sich diese Variante jedoch kaum durchgesetzt zu haben. Ein frühes Studio in Hamburg benannte sich zwar „Gummierter Rücken“, was dem englischen „Stickyback“ entspricht.

Viele überlieferte Fotos aus dem deutschsprachigen Raum zeigen allerdings keine Klebereste – vermutlich auch, weil der Leim im Laufe der Zeit verschwunden ist. Bei vielen Bildern sind aber die Rückseiten von Hand beschriftet, was gegen eine Klebeseite spricht.

Ein entscheidenderer Faktor für den Erfolg des Systems war vermutlich weniger die gummierte Rückseite als vielmehr der günstige Preis, die große Anzahl praktisch verwendbarer Bilder und ihre schnelle Verfügbarkeit.


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„Drück auf den Knopf“

Der eigentliche Clou lag in einem einfachen System zur Selbstauslösung: ein mechanischer Auslöser, der den Fotografierten die Kontrolle über den Moment der Aufnahme überließ – und dem Ganzen den Anschein eines besonderen Verfahrens verlieh.

Ein Zeitungsartikel im General-Anzeiger für Dortmund vom 19. Oktober 1912 beschreibt das Prinzip:
„Ein neues amerikanisches Unternehmen hat heute seine Pforten in der Krüger Passage geöffnet: die American Automatic Photo Company, Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das Unternehmen, das bereits in zahlreichen Großstädten im In- und Ausland vertreten ist, sorgt überall für berechtigtes Aufsehen. Das Prinzip ist einfach: Man drückt auf einen Knopf, wird fotografiert und erhält zwölf Bilder in ansprechender Ausführung – zum erstaunlich günstigen Preis von nur 50 Pfennig. Die Lieferung erfolgt bereits am Tag nach der Aufnahme.“

Die Möglichkeit, die Kamera per Knopfdruck selbst auszulösen, verlieh dem Verfahren einen Hauch technischer Modernität. Besonders auf erhaltenen Gruppenaufnahmen lässt sich das Prinzip des „Knopfdrückens“ oft erkennen – und zeigt zugleich den Unterhaltungswert dieser Inszenierung.


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Die Begriffe „Automatic“ und „American“ wurden gezielt im Marketing eingesetzt – als Markenversprechen für Fortschritt, Effizienz und Innovation.

Viele Studios siedelten sich an repräsentativen Adressen an, in der Hoffnung auf eine große Laufkundschaft: Portraits schnell, günstig und für jedermann.


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Tatsächlich finden sich auch viele Aufnahmen wohlhabender Bürger.  Die große Erschwinglichkeit machte diese Fotos jedoch auch für die städtische Arbeiterklasse attraktiv. Die erhaltenen Bilder zeigen oft Personen, die sonst nur selten fotografiert wurden, was sie heute zu einer besonders wertvollen Quelle macht.


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Wo klassische Studiofotografie teuer und aufwendig war, boten diese Ateliers eine einfache Möglichkeit, ein eigenes Porträt zu besitzen – nicht nur als Gebrauchsfoto für Personaldokumente, sondern auch als Geschenk, fürs Familienalbum, als sogenanntes „Kussbild“ für die Brieftasche bei räumlicher Trennung oder als Erinnerung an gemeinsame Zeiten.

 

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„Gegenstand des Unternehmens ist die fabrikmäßige Massenherstellung von billigen Miniaturphotographien.“

Dieser Eintrag der American Tip-Top Photo Co. GmbH im Handelsregister beim Königlichen Amtsgericht in Kiel (1913) beschreibt deutlich, worum es sich handelt:

Die Bilder waren im Miniaturformat. Dank Kameras der Firma Ernemann mit Multipliziermagazinen und speziellen Kopierapparaten  (vgl. Eder 1913, S. 252–253)² konnten Studios in kürzester Zeit massenweise Porträts herstellen und vervielfältigen – zu unschlagbar niedrigen Preisen. Die gängigsten Formate lagen bei etwa 3 × 4 cm (Einzelporträt) und 6 × 4 cm (Gruppenaufnahme). Typisch war die Lieferung auf Papierstreifen: Zwölf identische Porträts in Serie kosteten lediglich 50 Pfennig.


Das Besondere an dieser neuen Art der Studiofotografie war nicht nur die Technik selbst, sondern auch das dahinterstehende Geschäftsmodell: ähnlich einem modernen Franchise-System mit standardisierten Abläufen, Produkten und Gebietsschutz.

Mindestens zwei Anbieter statteten die Studios mit Ausrüstung aus:

    •    Miniatur-Photo-Apparate GmbH, Elberfeld

„Enormer Verdienst. American-Miniatur-Atelier-Einrichtung – ‚Drück auf den Knopf und photographiere dich selbst‘ – Komplettlieferung für 950 Mark.“
Anzeige im Hamburger Fremdenblatt vom 1. Dezember 1912

    •    Deutsch-Amerikanische Photo-Apparate-Gesellschaft, Köln

„Glänzende Existenz für Jedermann. Amerikanische Miniatur-Atelier-Einrichtung ‚Drück auf den Knopf und photographiere dich selbst‘ – Komplettlieferung ab 800 Mark. Interessenten erhalten Rentabilitätsnachweis.
Werbung im Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung vom 1. Dezember 1912


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Expansion in Deutschland: Ein Erfolgsmodell

Ab 1912 entstanden innerhalb weniger Monate in zahlreichen Städten Fotostudios unter unterschiedlichsten Namen, in denen Porträts nun serienweise gefertigt wurden.

Die bekanntesten dieser Studios lassen sich eindeutig identifizieren und historisch dokumentieren – nicht nur durch Handelsregistereinträge und zeitgenössische Werbeanzeigen, sondern auch dank des markanten Wiedererkennungsmerkmal: Auf vielen Aufnahmen ist im Hintergrund eine Tafel mit dem Namen und der Adresse des Studios zu sehen.


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Foto aus der Niederlassung in Kassel

    •    Foto-Automatic Union GmbH 
„Betrieb eines photographischen Unternehmens nach englisch-amerikanischem System.“
Handelsregistereintrag im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger vom 15. November 1912 für die Filiale in Köln (Eintrag Nr. 1890).


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Foto aus der Niederlassung in Bremen

    •    American Tip-Top Photo Co. GmbH

„Gegenstand des Unternehmens ist die fabrikmäßige Massenherstellung von billigen Miniaturphotographien.“
Handelsregistereintrag im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger vom 21. Januar 1913 für die Filiale in Kiel.


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Foto aus der Niederlassung in Düsseldorf

    •    American Automatic Photo Cie. GmbH
„Ausnützung eines Verfahrens zur Herstellung von Serienphotographien und die Herstellung und der Vertrieb der durch dieses Verfahren hergestellten Photographien".
Handelsregistereintrag im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger vom 22. August 1912 für die Filiale in Dortmund (Eintrag Nr. 1851)


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Auch die großen Berliner Kaufhäuser, etwa das KaDeWe und Wertheim, setzten in ihren Fotostudios früh das Schnellfoto-Verfahren ein. Die Fotografie diente dabei nicht nur als Serviceleistung, sondern gezielt als Lockmittel: Sie zog Laufkundschaft an, verlängerte die Verweildauer im Haus und führte häufig zu weiteren Einkäufen – sei es während der Wartezeit oder beim späteren Abholen der Bilder. (siehe dazu: Porträtfotografie in Berliner Kaufhäusern  (1900–1933)

 Für viele Betreiber war das Verfahren ein wirtschaftlicher Glücksgriff: niedrige Produktionskosten, geringer Platzbedarf und einfache Bedienbarkeit. In kurzer Zeit entstanden zahlreiche Studios – ein frühes Beispiel für ein sich schnell verbreitendes und lukratives Fotografie-Business.

Die Hochphase dauerte jedoch nicht sehr lange, da neue technische Entwicklungen aufkamen und viele Studios den Betrieb einstellten. Einige Betriebe konnten sich jedoch halten, indem sie ihre Produktpalette erweiterten. Sie produzierten zum Beispiel Postkarten-Schnellfotos, die in diesen Jahren auch sehr populär wurden – und manche Studios existierten so noch bis in die 1930er Jahre.

Heute fast vergessen

Die Massenporträtfotografie dieser Art wird in der Fotogeschichte kaum erwähnt – nicht zuletzt wegen ihrer oft geringen technischen Qualität und weil die Serienbilder zumeist als Gebrauchsartikel ohne künstlerischen Anspruch gesehen werden.

Heute bietet dieses „nahezu vergessene Kapitel“ der Fotografie jedoch wichtige Einsichten in die Alltagskultur, soziale Identität und urbane Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts.

Es entwickelte sich eine Gebrauchsweise der Fotografie, eine Ästhetik der Selbstdarstellung, die bis heute modern ist.


Online-Ressourcen
    •    stickybacks.uk – Eine umfangreiche Sammlung und Studie zur Stickyback-Fotografie
    •    Magyar Nemzeti Levéltár – (Ungarisches National Archiv) - From Stickyback Photography to the Invention of the Photomaton Photobooth by
János Mátyás Balogh
    •    Nederlands Fotomuseum – Ausstellung und Sammlungen zur Snelfotografie

Publikationen
    •    Dirk Kome: Snelfotografie – de rage van 1912 tot 1925
    •    Róman Kienjet: De snelfotograaf
    •    Instagram: @stickybacks_snelfotografie
   
Literaturverzeichnis
    1    Balogh, János Mátyás: Stickyback és Photomaton: portréfotódivatok a 20. század első évtizedeiben. Budapest 2020. (Deutsch: Stickyback und Photomaton: Porträtfotomoden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts) – Online verfügbar
    2    Eder, Josef Maria (Hrsg.): Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik für das Jahr 1913. Unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner. Halle a. d. S.: Wilhelm Knapp, 1913.


  Mehr Bildbeispiele gibt es in diesem Magazin als PDF  download:


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Text: Reinhard Krause
    Bilder: Sammlung Reinhard Krause