gehfilm


Film-Geh-Aufnahmen

Kommerzielle Straßenfotografie zur Zeit der Weimarer Republik


Revue des Monats 

 

„Die Mode des Photoüberfalls"
So titelte Hubert Miketta,  Chefredakteur der Revue des Monats, in seiner Dezemberausgabe 1927 – und beschrieb damit eine neue „Seuche“, die sich auf den Straßen Berlins ausbreitete:
„Berlin hat einen neuen ‚Tick‘! – Kennen Sie schon die neueste Modekrankheit von Berlin? Nein? Also, dann hören Sie zu, falls es Sie interessiert, Näheres über diese Seuche zu hören. – Ahnungslos schlendert man die Leipziger Straße entlang, sieht sich die Auslagen in den Schaufenstern an, mustert die Vorübergehenden, stellt Betrachtungen über hübsche Beine an – kurz, man macht das, was der Berliner so treffend mit dem Ausdruck ‚bummeln‘ bezeichnet. Plötzlich tritt uns ein gut aussehender, glatt rasierter junger Mann in einem flott konfektionierten Anzug in den Weg und schleudert einige geheimnisvolle Worte in unsre mehr oder minder geistreichen Gedankengänge. Diese Worte lauten: ‚Sie sind soeben gefilmt worden!‘ Gleichzeitig wird uns ein nummerierter Zettel in die Hand gedrückt, der nähere Aufklärung erteilt.“

zettel

combo1

stamp

AKICE – Steinborn’s Film-Geh-Aufnahmen
 

Das zugrundeliegende Verfahren wurde von dem Fototüftler Gerhard Steinborn aus Bad Neuenahr entwickelt und dann von zahlreichen Straßenfotografen angewandt. Über ihn ist nur wenig bekannt, doch Hinweise – etwa eine abgelehnte englische Patentschrift für eine Fotokabine – deuten darauf hin, dass er sich intensiv mit kinematographischen Verfahren und Schnellfotografie beschäftigte.
Naheliegend ist, dass Steinborns System auf ausgedienten Stummfilmkameras  basierte, die mithilfe einer Handkurbel drei Belichtungen erzeugten. Die Aufnahmen wurden anschließend im Postkartenformat ausbelichtet – ein
dynamisches Mini-Porträt mitten aus dem Alltag.

combo2                       
Der Artikel von Hubert Miketta führt weiter aus:
Nicht jeder wird gefilmt
– man muß schon durch irgendwelche äußeren Merkmale die Sympathie des Kameramannes erregen. Also immerhin, man ist durch seine Persönlichkeit aufgefallen und fühlt sich geschmeichelt. Außerdem kostet der Scherz nur eine Mark, falls man Wert auf das Ergebnis der Aufnahme legt. – Wenn man dann am folgenden Tage den Filmstreifen, der aus drei Bewegungsbildern besteht, abholt, ist man zunächst, offen gesagt, ein wenig bestürzt. Wenigstens mir ging es so. Bin ich wirklich dieser durchaus salopp wirkende, mit flatternden Hosenbeinen und auseinander wehendem Mantel dahineilende Straßenpassant? Nun wird mir plötzlich der Unterschied klar zwischen einer im Atelier hergestellten Aufnahme, für die wir uns extra zurecht machen, und einer Aufnahme, die jählings von uns gemacht wurde, ohne daß wir es wußten. Gewissermaßen ein Bild ohne die Maske der photographischen Konvention. So sehen wir wirklich aus, denn das Objektiv lügt nicht. Ein solches Bild charakterisiert uns besser, als man es in Worten ausdrücken könnte.“

couple

Doch nicht jeder "Photoüberfall" blieb ohne Konsequenzen, wie Miketta in seinem zeitgenössischen Artikel weiter berichtet:
„Es braucht ja nicht jedem gleich so zu gehen, wie jenem rheinischen Großkaufmann, der kürzlich mit seiner sehr entzückenden Freundin eine Bummelreise nach Berlin unternahm und hier gefilmt wurde. Einige Tage später kam seine weniger entzückende Gattin gleichfalls nach Berlin und wurde an derselbe Ecke gleichfalls gefilmt. – Als sie ihre Bilder abholte, sah sie unter dem Stapel von Photos plötzlich auch ihren Gatten abgebildet an der Seite seines blonden Vergnügens. Ihr hatte er erzählt, daß er auf einer mehrtägigen Aufsichtsratssitzung in Düsseldorf wäre. – Tableau! Nun, so schlimm braucht es nicht immer gleich zu kommen. Ein anderer älterer Herr stellte bei einer Begegnung auf der Straße seine sehr viel jüngere Freundin einfach als „bisher verheimlichte Tochter“ vor.“  




combo3

F
otografie als Zeitdokument:
Obwohl diese Aufnahmen aus rein kommerziellen Motiven entstanden, zählen sie zu den frühesten Formen dokumentarischer Straßenfotografie. Trotz teils mäßiger Bildqualität gewähren sie einen authentischen Einblick in das urbane Straßenleben auf den Flaniermeilen der Großstädte und Kurorte der 1920er Jahre – denn genau dort positionierten sich die Fotografen bevorzugt.

Über diese "Schnellfotografen", ist nur wenig bekannt. In den Krisenzeiten der Weimarer Republik suchten sie nach Einnahmequellen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihr sozialer Status war vermutlich prekär: Mit einfachsten Mitteln ausgestattet, bewegten sie sich wohl eher am Rande der Gesellschaft.


scene5

Fotografie als Straßenkunst:
In drei aufeinanderfolgenden Bildern schreitet ein gut gekleideter Mann über eine breite Straße – ein stilvoller Auftritt im Großstadtleben der 1920er-Jahre. Der Fotograf bleibt im Hintergrund, doch sein Blick ist geschult: Es scheint, als habe er die bewusste Selbstinszenierung des Mannes erkannt – vielleicht in der Hoffnung, den elegant auftretenden Passanten als Käufer der Aufnahme zu gewinnen.
Die Szene erinnert an einen kurzen Filmclip – ein Eindruck, der hier durch die sichtbare Filmperforation am Rand des Bildstreifens noch besonders verstärkt wird.



 
Scene 1

Authentizität trotz Inszenierung
:
Zwei junge, elegant gekleidete Frauen flanieren mit einem Herrn durch die Straße – möglicherweise vorgewarnt vom Fotografen –, versuchen jedoch, sich ungezwungen zu geben und in Bewegung zu bleiben. Eine Frau im Hintergrund dreht sich neugierig um und verweist so auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die solche Fotoaktionen hervorriefen.
Viele dieser Aufnahmen zeigen inszenierte oder halb-inszenierte Szenen: Passanten bemerken den Fotografen und reagieren sichtbar, andere scheinen ihn gar nicht zu bemerken. Trotz oder gerade wegen dieser Mischung aus bewusster Pose und spontaner Bewegung vermitteln die Bilder authentische Eindrücke des urbanen Lebensgefühls jener Zeit.



scene2

Kommerzielle Motivation
:
Ein stilvolles Paar überquert die Straße und blickt direkt in die Kamera – ihre bewusste Pose steht im Kontrast zum unbeachteten Alltagsgeschehen im Hintergrund, etwa einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Obwohl die Szene wie eine spontane Momentaufnahme wirkt, verrät sie eine starke visuelle Komposition – das Ergebnis von Erfahrung und Instinkt des Fotografen, der Bilder erschuf, die sich verkaufen ließen. Aus kommerziellen Interessen entstanden, zielten diese Aufnahmen darauf ab, Passanten als Kunden zu gewinnen. Sie markieren einen Wendepunkt in der Fotografiegeschichte: Die Kamera verlässt das Atelier, geht auf die Straße – hin zur Bewegung, zum Zufälligen. Damit werden diese Bilder zu frühen Vorläufern der modernen Straßenfotografie.


scene 100
scene102

scene 101

Die Straße wird zur Bühne:
Männer und Frauen in stilvoller Kleidung bewegen sich frontal auf die Kamera zu, ihre Haltung wirkt kontrolliert und selbstbewusst. Sie inszenieren sich für den Gang im öffentlichen Raum, den sie als Schauraum nutzen. Der Fotograf erkennt diesen Moment der Selbstpräsentation – ein Spiel zwischen Alltagsbewegung und fotografischer Pose – und zugleich eine Verkaufsgelegenheit: Die Porträtierten sollen sich im Bild wiedererkennen und es ihm anschließend abkaufen.



scene3

Bildästhetik des Zufalls
:
Ein modisch gekleideter Mann und eine Frau schreiten frontal auf die Kamera zu – die Frau blickt direkt in die Linse, möglicherweise hat sie den Fotografen bemerkt. Trotz dieser bewussten Reaktion wirkt die Szene in ihrer Gesamtheit authentisch, als Momentaufnahme urbanen Alltags. Diese Fotografie steht exemplarisch für eine neue fotografische Praxis der Zwischenkriegszeit: Der technologische Fortschritt – insbesondere mobile Kameras, die schnelle Aufnahmen im öffentlichen Raum ermöglichten – veränderte die Bedingungen fotografischer Bildproduktion grundlegend. Zwar war die Aufnahme hier wieder kommerziell motiviert, mit dem Ziel, sie den Porträtierten zu verkaufen, doch dokumentiert sie weit mehr: Kleidung, Körperhaltung, Bewegung – all das macht sie zu einem Zeitdokument .



scene4

Vorläufer der modernen Straßenfotografie
:
Drei elegant gekleidete Personen flanieren über einen großstädtischen Boulevard, während im Hintergrund eine Straßenbahn mit der Aufschrift „Städtische“ auf die Berliner Verkehrsbetriebe verweist. Kleidung, Haltung und Auftreten wirken bewusst gewählt – wie eine kleine Szene auf der Bühne des Großstadtlebens.
Der Fotograf bleibt im Verborgenen, scheint aber den Moment der Selbstinszenierung gezielt eingefangen zu haben – nicht zuletzt, weil die wohlhabend wirkende Gruppe potenzielle Kundschaft für den Bildverkauf darstellte.



scene44

Dokumentation sozialer Realität
:
Ein wohlhabendes Paar auf einem Pferd wird fotografiert. Im Hintergrund erscheint zufällig ein Arbeiter mit Handkarren – der Kontrast zwischen sozialem Status wird unbeabsichtigt sichtbar und es entsteht so ein Bild sozialer Realität, das gesellschaftliche Unterschiede sichtbar macht – etwas, das der Fotograf vermutlich weder geplant noch bewusst wahrgenommen hat.


scene55

Einfluss des Films:

Eine verwischte Aufnahme eines fahrenden Autos erinnert in Dynamik und Rahmung an das Kino – eine visuelle Annäherung an die moderne, bewegte Bildkultur. Dynamik wie im Film: Die Bildsequenz zeigt ein vorbeifahrendes Auto – die Bewegung ist verwischt, die Filmperforation sichtbar, was den Eindruck eines laufenden Films verstärkt. So verweist das Bild nicht nur inhaltlich, sondern auch formal auf den Einfluss des Kinos auf die Fotografie jener Zeit. Gleichzeitig spiegelt es das urbane Leben der Weimarer Republik.


scene99
scene88

Gebrauchsweisen im Kontext der Postkartenkultur:
Zwei elegant gekleidete Frauen flanieren 1932 durch Bad Pyrmont und posieren für die Kamera, während ein weiteres Duo in sommerlicher Kleidung spontan auf den Fotografen reagiert – beobachtet von einem Mann und mehreren Kindern im Hintergrund, die neugierig das Geschehen verfolgen. Diese sogenannten Film-Geh-Aufnahmen wurden im damals weit verbreiteten Postkartenformat entwickelt und fanden vielfältige Verwendung: Sie wurden als persönliche Erinnerungsstücke ins Familienalbum geklebt, als Gruß versendet – teils mit direktem Bezug auf das Bild, etwa mit Kommentaren wie „beim Filmoperateur“ oder „ist dieses nicht ein schöner Film?“ – oder auch zerschnitten, um einzelne Porträts oder Szenen hervorzuheben.


scene
                77

Technische Mängel als ästhetisches Merkmal:

Zwei Frauen haben beim Schaufensterbummel den Fotografen bemerkt und reagieren freudig-unsicher – ein spontaner Moment im öffentlichen Raum.
Die oft mäßige Bildqualität solcher Aufnahmen war kein Zufall, sondern Ausdruck der prekären Arbeitsbedingungen der Fotografen: Sie arbeiteten mit einfacher, teils überholter Ausrüstung, entwickelten ihre Fotos improvisiert und mussten auf der Straße schnell reagieren.Gerade diese technischen Unzulänglichkeiten – Unschärfen, Kontraste, Bildfehler – verleihen den Bildern eine besondere Unmittelbarkeit und machen sie zu authentischen Zeitdokumenten.


scen103


Heute erscheinen diese Aufnahmen in einem neuen Licht: nicht als nostalgische Kuriosa, sondern als rohe, frühe Dokumente einer visuellen Moderne – zugleich wertvolle sozialdokumentarische Quellen des urbanen Alltags. Die Film-Geh-Aufnahmen markieren den Beginn einer Bildpraxis, die in Selfies, Street Photography und der Snapshot-Kultur unserer Zeit fortlebt – mit dem Unterschied, dass damals die Kamera dem Fotografen gehörte, heute jedoch oft dem Abgebildeten selbst.
Gerade ihre Unvollkommenheit, Serienhaftigkeit und spontane Ästhetik machen sie heute überraschend zeitgemäß.



  Mehr Bildbeispiele gibt es in diesem Magazin als PDF  download:

Link PDF
https://www.reinhard-krause.de/photoueberfall.pdf

© 2025 – Sammlung Reinhard Krause, Wildau - mail(at)reinhard-krause.de